Heute ist doch eigentlich alles möglich. Welchen Grund gibt es da noch, sich aufzulehnen? Gerade heute aber brauchen wir die Rebellion im Kleinen, findet Dagmar Borchers. Die Professorin für Angewandte Philosophie an der Universität Bremen und Ethikexpertin erklärt im KLUB MAGAZIN, wie Rebellierende positiv wirken können und was diese mit einer lebendigen Gesellschaft zu tun haben. Und sie zieht eine deutliche Grenze, wo die Rebellion zu weit geht.
…erst einmal nicht so viele aktuelle Einträge. Es scheint, als sei das Thema gar nicht groß in Mode!
Dagmar Borchers: Vielleicht sollte man zunächst kurz überlegen, was gemeint ist. Nach meinem Verständnis ist Rebellion ein plötzlich aufbrechender Widerstand gegen einen bestimmten Zustand. Nicht wie eine Revolution, die systematisch geplant, theoretisch fundiert oder politisch-strategisch durchdacht ist. Rebellion ist etwas Unsystematisches. Sie entsteht eher spontan und richtet sich gegen konkrete Gegebenheiten, zum Beispiel Arbeits- oder Lebensbedingungen, die unerträglich werden. In der Seefahrt nannte man das früher Meuterei.
Heute geht es zumindest in Deutschland den meisten Menschen extrem gut. Wir haben die Tendenz, uns das, womit wir unzufrieden sind, persönlich zuzuschreiben und uns selber zu optimieren. Aber wir würden das nicht über unseren persönlichen Lebenshorizont verallgemeinern und gemeinsam rebellieren – obwohl es vielleicht ein Phänomen ist, das viele andere auch betrifft. Das finde ich sehr verwunderlich, weil es doch durchaus Dinge gibt, die höchst fragwürdig sind. Zum Beispiel die großen Internetkonzerne, die Unmengen an Daten sammeln.
…gemeinsam gegen Missstände wenden?
Dagmar Borchers: Ja, etwa die Schüler, die für den Klimaschutz streiken. Heute gibt es vielfach organisierte, kleine Rebellionen wie Gewerkschaftsstreiks oder vor kurzem den Aufstand der Hebammen. Vielfach fallen sie schnell wieder in sich zusammen. Über Themen wie die Internetgiganten ärgern sich viele. Aber gleichzeitig wollen die meisten Leute ihre Whats-App-Gruppen nutzen oder bei Facebook sein. Dann überwiegt letztendlich dieses „Ach, egal!“.
…von Greta Thunberg und den anderen Schülern werden allgemein als positiv aufgefasst. Bei den Gelbwesten in Frankreich oder anderen antidemokratischen Bewegungen eskaliert der Widerstand ins Gewalttätige. Wo liegt bei der Rebellion die Grenze zwischen „gut“ und „schlecht“?
Dagmar Borchers: Rebellieren ist tatsächlich eine sehr ambivalente Sache. Auf der einen Seite hat Rebellion die Menschheit immer vorangebracht. Wenn sie auf Missstände hinweist, ist sie wichtig und konstruktiv. Die Menschen sollen ja nicht alles erdulden. Insofern gehört Rebellion zum kritischen Denken und zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung dazu. Wichtige Fragen sind: Wie wollen wir leben und was sind unsere Maßstäbe? Wie weit klaffen Realität und Ideal auseinander?
Dass Rebellion auch ambivalent ist, ist an den Gelbwesten zu sehen. Auf der einen Seite kann man verstehen, dass diese Menschen in eine ökonomisch schlechte Lage gedrängt wurden. Aber negativ sind diese Gewaltexzesse, dieses Militante. Für mich ist dort eine Grenze, wo die argumentative Ebene nicht mehr da ist und wenn Rebellion selbstgerecht und borniert wird.
Dagmar Borchers: Im Tierschutz gibt es eine Bewegung, die mir teilweise zu militant und selbstgerecht ist. Natürlich wurde in der Tierethik viel erreicht, zum Beispiel dass Pelz geächtet wird oder Legebatterien verboten wurden. Ich weiß aber nicht, ob man jeden Zirkus fertig machen muss, in dem ein Tier auftritt. Viele gehen sehr liebevoll mit ihren Tieren um. Mir ist die Kritik oft zu pauschal und zu rücksichtslos. Da werden Morddrohungen geschickt oder jemand finanziell ruiniert, weil Leute meinen, sie wären im Recht. Ich lehne es ab, wenn man Menschen fertig macht und keine Regeln mehr im moralischen Umgang miteinander gelten. Man kann als Tierschützer ein noch so gutes Anliegen haben, aber das berechtigt einen nicht, andere Menschen zu bedrohen und zu beleidigen.
…Normen. Inwieweit ist das heute überhaupt noch möglich?
Dagmar Borchers: Wir leben heutzutage – zumindest im Westen – in sehr dynamischen und komplexen Gesellschaften. Früher war die Gesellschaft religiös und kulturell viel homogener. Deshalb ist es mit Rebellion auch nicht mehr so einfach, weil immer nur Teile der Gesellschaft rebellieren und andere dem mit wenig Verständnis gegenüber stehen. Bestimmte Auffassungen sind in pluralistischen Gesellschaften nicht unbedingt mehrheitsfähig. Die Menschen leben in zunehmend unterschiedlichen Lebenswelten.
…geworden, das zum Beispiel in der Popkultur beliebig variiert wird?
Dagmar Borchers: Ich glaube, dass Rebellion deshalb so schwierig geworden ist, weil wir uns unserer eigenen Werte und Überzeugungen nicht mehr so sicher sind. Eigentlich gibt es ja große Werte in liberalen, rechtstaatlichen Demokratien. Also Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität – die fünf Grundwerte, die sich durch unsere Verfassung ergeben. Obwohl das geistesgeschichtlich unsere normativen Grundlagen sind, fangen wir heute an herumzueiern, wenn wir eigentlich ganz klar sagen sollen, was richtig und wichtig ist. Ich finde das sehr bedauerlich.
…die Grundwerte der Demokratie einzustehen?
Dagmar Borchers: Ich denke ja. Es kann doch nicht sein, dass wir nicht mehr den Mut haben, zu bestimmten Dingen zu stehen, die geistesgeschichtlich zu uns gehören. Wie zum Beispiel Demokratie, Europa oder Gleichberechtigung. Ich höre von Studierenden oft: „Kultur ist ja relativ. Jeder hat seine Wahrheit. Und: Man kann ja nicht sagen, was richtig ist.“ Wenn das die normativen Fundamente sind, auf denen wir heute stehen, dann ist es mit der Rebellion sehr viel schwieriger. Unsere Überzeugungen sind so wachsweich geworden.
…die jungen Leute rebellieren und die Älteren das Establishment bilden. Können Sie sich das erklären?
Dagmar Borchers: Ich glaube, das lässt sich heute nicht mehr am Alter festmachen. Es gibt sehr angepasste junge Leute, die einen sehr konsumorientierten Lebensstil anstreben. Andererseits setzen sich viele ältere Leute sehr ein. Es gibt mutige Rebellionen im Kleinen.
Ich wurde einmal mit einer Juristin zusammen zu einem Seminar über aktive Sterbehilfe in einen Seniorentreff in Huchting eingeladen. Ich war zuerst ziemlich perplex. Aber haben mir die Leute da ganz frank und frei gesagt: Wir wollen nicht hören, dass man keine aktive Sterbehilfe machen darf. Sondern wir wollen ganz genau hören wie man das macht und wem man da vertrauen kann. Wir wollen mit Ihnen offen über dieses Thema reden. Ich habe gedacht: Wow, das ist ja verdammt cool!
Die älteren Leute haben uns sehr persönliche Geschichten erzählt, von Angehörigen, die sie bis zum Tod gepflegt haben. Sie sagten, wir haben das erlebt und für uns können wir uns vorstellen, selbstbestimmt zu Sterben und dazu einen seriösen Sterbedienst zu rufen. Sie haben sich bitter über die Politik beklagt, die immer nur sagt: Kommt nicht in Frage. Für mich ist das eine sehr mutige Kleinstrebellion von alten Leuten.
…weitere solcher kleinen Rebellionen?
Dagmar Borchers: Die #MeToo-Debatte, die fand ich eine ganz großartige Rebellion. Dabei hat sich herausgestellt, dass Frauen in allen Berufssparten und in unendlich vielen anderen Bereichen Belästigungen erleben. Frauen haben das sehr lange weggesteckt und als privates, persönliches Problem gesehen. Ein paar mutige Frauen haben den Stein ins Rollen gebracht. Und auf einmal hat sich ein strukturelles Problem erkennen lassen. Das war für mich ein positives Beispiel für eine Rebellion, die gezeigt hat, hier gibt es ein systematisches Missverhältnis zwischen Männern und Frauen und das muss jetzt aufhören. Das hat wirklich etwas verändert.
… also nicht die großen Bewegungen, die wirklich etwas verändern, sondern die Kleinstrebellionen?
Dagmar Borchers: Ich würde sogar sagen, wir brauchen diese Rebellionen. Sie bringen die Gesellschaft voran, weil sie strukturelle Probleme aufzeigen. Aber es gibt auch eine dunkle Seite. Man darf das Augenmaß nicht verlieren. Doch eine Gesellschaft, in der es keine Rebellion gibt, wäre leblos! Rebellionen zeigen ja, dass Menschen mitdenken und sich für eine bessere Welt einsetzen.