Meine Lieblingserzählungen sind die Geschichten, die meine Großtante früher erzählt hat, wenn sie bei uns zu Besuch war. Da war ich fünf oder sechs Jahre alt. Sie hat immer von einem Zwerg erzählt. Das war immer lustig, denn der Zwerg hat Sachen erlebt, die ich, wie ich am Ende feststellte, auch erlebt hatte. Alltagsgeschichten. Eine der Geschichten habe ich dann später auch meiner Tochter weitererzählt – und die erzähle ich immer noch.
Ja, passend zu dem, was sie bei mir gesehen oder über mich erfahren hat.
Ja.
Wenn man das Publikum ein bisschen kennt, ist es natürlich leicht; dann weiß man auch, was man denen erzählen soll. So zum Beispiel in Gröpelingen im Kinder- und Familienzentrum Halmerweg, wo ich in den vergangenen drei Jahren jede Woche Geschichten erzählt habe. Aber wenn ich irgendwo auftrete, weiß ich natürlich nie im Voraus, was da für Leute sind. Man muss dann vor Ort gucken, was man sieht. Deswegen ist es schlau, dass man einen großen Kopf hat (lacht). Ich habe je nach Jahreszeit zehn, zwölf, 15 Geschichten, von denen ich dann lebe.
(Ahhhh, lacht) Das ist eine richtig schöne Frage. (lacht) Wenn ich wüsste, was gute Geschichten sind, würde ich die nur erzählen. Man muss Geschichten an das Publikum anpassen. Und das hängt auch sehr davon ab, was Leute kennen, was ihr Hintergrund ist. Es ist schwierig vorherzusagen. Wenn Leute gar nicht reagieren, dann ist es eine … nicht so tolle Geschichte. Wenn Leute begeistert sind, ja dann, ist es eine gute Geschichte. Aber das weiss man erst hinterher.
Naja, Aristoteles hat gesagt: Eine gute Geschichte fängt an mit dem Problem. Wenn es kein Problem gibt, sind Geschichten schnell langweilig. Es muss ein paar Mal unklar sein, wie das Problem aufgelöst wird. Und irgendwann muss es natürlich doch eine Lösung oder ein Scheitern geben. Wenn das in einer Geschichte so ist, dann sind Leute zufrieden mit der Geschichte. Ob sie den Inhalt auch schön finden, das kann man nicht vorhersagen. Und das ist immer so. Deswegen sind auch Serien, die man zum Beispiel bei Netflix guckt, so aufgebaut. Es gibt noch ein Problem aus der vorherigen Folge, und kaum ist das gelöst, taucht das nächste Problem auf. Weil uns das dabei hält, weiter zu gucken. Eigentlich kommt es da nie zu einem guten Ende, denn sonst würden wir aufhören zu gucken.
Netflix ist eine Form, Filme zu machen. Das ist nicht das Gleiche. Alle Leute erzählen heutzutage Geschichten: Filmemacher, Politiker. Das hat auch damit zu tun, dass wir Menschen Geschichten brauchen, um den Überblick zu haben. Wenn alles nur Ereignisse oder Gegebenheiten sind, dann können wir das nicht so gut verstehen. Wir brauchen irgendwo einen Zusammenhang, der uns zufriedenstellt. Und das ist es, glaube ich, warum die Leute Geschichten so mögen. Das macht das Leben übersichtlich. Deswegen erzählen wir auch ständig Geschichten, auf der Arbeit, in den Familien. Wir brauchen Geschichten, eigentlich Kommunikation, um uns auch mit anderen zu verstehen, zu lernen, weiser zu werden. Um das Gefühl zu haben, dass wir vorwärtskommen. Deswegen versuchen all die Leute Geschichten zu erzählen.
Die Geschichten sind natürlich nie gleich geblieben. Die haben sich geändert, weil die Umstände sich geändert haben. Aber man kann die alten Geschichten immer wieder neu erzählen. Man muss sie anpassen an die heutige Zeit. Ich habe im März ein neues Geschichtenprogramm konstruiert. Da dachte ich, es wäre schlau, wieder mal Geschichten über Krieg und Frieden zu erzählen. Dann sucht man Geschichten und denkt: Das ist auch ein uraltes Thema. Ich fand eine passende Geschichte aus Indien: „Der Krieg der Krähen und Eulen“. Die Geschichte habe ich dann völlig umgebaut, weil man so alte Geschichten jetzt nicht mehr erzählen kann – auch wegen des Sprachgebrauchs.
Die Themen bleiben gleich, aber die Geschichten müssen angepasst werden. Ich habe irgendwann mal rausgefunden, dass es acht treibende Themen von Geschichten gibt: Es gibt die Entdeckungsreise (man geht los, weil man unbedingt etwas finden will), die Aufgabe (man gibt sich selbst eine Aufgabe oder bekommt von irgendwoher eine Aufgabe), das Missverständnis (zum Beispiel das trojanische Pferd), das Unrecht (Kampf Gut gegen Böse), dann gibt es das Unerreichbare (zum Beispiel steinreich oder berühmt zu werden), die Freundschaft (Hass und Liebe) und dann gibt es noch das Schicksal (Hungersnot, Überschwemmungen, wo normale Menschen eigentlich keinen Einfluss darauf haben) und die List (Hänsel und Gretel).
Ja, aber es gibt natürlich Moden in Geschichten, in Inhalten. Wenn man zum Beispiel bei Filmen guckt, dann sind jetzt so James-Bond-artige Filme in Mode. Als ich Teenager war, hat meine Mutter immer Liebesgeschichten gelesen. Als ich 40, 50 war, waren es Krimis. Die Mode ändert sich; die Form der Geschichte ist immer gleich.
Ja ja, das hängt immer davon ab, wie dein Publikum aussieht. Es hängt davon ab, was das Publikum miterlebt hat, wohin es Verknüpfungen hat.
Man muss sich selber mit der Geschichte verbinden können, um eine Geschichte zu mögen.
Nein, das ist abhängig von der Geschichte. Man muss mit dem, was man macht und was man darstellt, die Aufmerksamkeit erlangen. Obwohl es in Familien in einer gemütlichen Atmosphäre natürlich schöner ist als unter Neonlicht. Und in einer gemütlichen Kneipe erzählt es sich auch besser als in einer Mensa. Aber wenn man in einer Schule eine Kerze aufstellt und es dunkel macht, dann macht die hintere Reihe, was sie will.
Nein, es gibt eigentlich viele Leute, die erzählen, würde ich sagen. Es gibt das Erzählfestival Feuerspuren, das im Herbst stattfindet. Da sind dann immer um die 40, 50 ehrenamtliche Erzähler.
Die sind alle aus Bremen, fast alle. Das Erzählfestival Feuerspuren ist in den 13 Jahren, in denen es existiert, auch gewachsen. Das ist mittlerweile eine feste Gruppe von Bremern, die da erzählen. Das ist eines der drei größten Erzählfestivals in Deutschland überhaupt.
Das eine ist Ludwigshafen und das andere sind die Berliner Märchentage. Das Festival in Ludwigshafen geht eine ganze Woche – da kommen um die 8000 Zuhörer. Und hier in Bremen bei Feuerspuren sind es zwischen 3000 und 5000 Menschen, die da für einen Tag Geschichten hören. In diesem Sinne hat Bremen eigentlich eine der größten Erzählaktivitäten Deutschlands. Und deswegen gibt es hier auch Erzähler.
Das ist interessant. Es gibt natürlich die klassische Ausbildung zum Schauspieler, von der alle klassisch Ausgebildeten sagen, sie können auch erzählen. Was ich früher auch gesagt hätte, aber heute nicht mehr. Ich denke, man muss viel mehr können als einen Text auswendig zu lernen und den darzustellen. Es ist für einen Geschichtenerzähler von Vorteil, wenn er Gestik und Mimik einsetzen kann, weil Zuhörer, um den Text zu verstehen, diese Gestik, Mimik und das Darstellende brauchen. Man muss nicht nur Worte benutzen, man muss das Ganze eigentlich so lebhaft darstellen, dass die Zuhörer einen eigenen Film im Kopf bekommen. Ich glaube, dass Erzählen – im Gegensatz zum Schauspielern – das Malen in anderen Köpfen ist.
Es gibt in Holland eine Erzählakademie, die habe ich mit einem der Erzählkollektiv-Kollegen gegründet. Die existiert mittlerweile schon mehr als zehn Jahre. Dort lernen ungefähr 250 bis 300 Leute pro Jahr erzählen. Es gibt dort Leute, die vor Publikum erzählen wollen, und es gibt Leute, die das von Berufswegen machen: Lehrer, Erzieherinnen, Verkäufer, Manager, Werbe-Leute. So etwas gibt es in Deutschland leider noch nicht. In Bremen gibt es die Möglichkeit, sich als ehrenamtlicher Erzähler für das Festival Feuerspuren zu melden und dann macht man einen VHS-Kurs. Und in Deutschland gibt es ein paar Stellen, wo man das Erzählen lernen kann. Die erste ist die Akademie der kulturellen Bildung in Remscheid. Da habe ich als Gastdozent gearbeitet. Die richtet sich vor allem an Leute, die in soziokultureller Bildung arbeiten.
Es gibt den Verband der Erzählerinnen und Erzähler. Die haben auch eine Ausbildung gestartet. Und dann gibt es noch ein Projekt, das ich mit einem Kollegen vor 15 Jahren angefangen habe: die Erzählwerkstatt. Das ist ein Projekt zur Sprachförderung, das bundesweit Erzieherinnen beim Etablieren von Erzählkultur in Kindertagesstätten begleitet. Und wir – ein kleines Team von vier Leuten – begleiten pro Jahr 24 Kitas ein Jahr lang und trainieren Erzieherinnen darin, Geschichten zu erzählen – den Kindern, den Eltern, manchmal auch im Dorf. Das Projekt war auch schon bei Kita Bremen. Die Teilnehmenden lernen, wie man Geschichten vorbereitet, wie man sie aufbaut, wie man Geschichten erzählt, dass man nicht nur da steht, wie man Musik und Gegenstände einbauen kann und wie man Kinder miterzählen lässt. Und an der Universität der Künste Berlin gibt es eine Teilausbildung künstlerisches Erzählen, sozusagen eine Zusatzausbildung der Schauspieler. Und dann gibt es überall Leute, die Kurse geben – aber die kenne ich nicht alle.
Das war irgendwann um 1989/1990. Ich war ursprünglich Schauspieler. Ich habe erst Kindertheater und dann als Regisseur mit Jugendlichen Jugendtheater gemacht. Und irgendwann war ich so weit vom Selber-Erzählen entfernt, dass ich dachte: Ach, ich möchte selber etwas machen. Das war in einer Zeit, wo man als Künstler nicht sagte: Dann gründe ich mal eine Theatergruppe und mache Theater, weil alle Leute drängelnd vor der Tür stehen und da rein wollen. In der Zeit kam das Erzählen in den Niederlanden wieder auf. Und ich dachte, dass das eigentlich schön ist. Mit vier Kollegen habe ich dann ein Kollektiv gegründet. Wir haben angefangen, Geschichten zu erzählen. Und das mache ich nächstes Jahr schon 30 Jahre.
Ja, es macht sehr viel Spaß.
Marco Holmer tritt das nächste Mal mit seinen Geschichten in der Reihe „Geschichten im Turm“ auf, am Freitag, 20 Dezember, um 20 Uhr im Kulturzentrum Schlachthof, Findorffstraße 51.
Zur Website von Marco Holmers „Geschichtenfabrik“: >>>
Abbildung rechts:
Titel des Buchs „Herman ist angekommen – Geschichten aus Gröpelingen“ von Marco Holmer, erhältlich im Kinder- und Jugendbuchladen Leseland im Steintor.