Alphabetisch oder nach Gefühl? Die Bremer Autorin Sabine van Lessen untersucht literarisch die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn zwei Menschen ein ganz unterschiedliches Ordnungsempfinden haben.
Die Frau nimmt den Globus und schaltet sein Licht ein. Öffnet jeweils ein Gewürzglas und zerreibt den Inhalte zwischen ihren Fingern. Sie nimmt den Duft auf, schmeckt und sucht den Ort auf dem Globus, an dem das Gewürz einst entfernt wurde. In dem Moment kommt ein Schaukelstuhl ins Spiel, auf welchem das Wiegen wie im Schiff auf den Wellen ist. Sogleich mussten die Augen geschlossenen werden. Wenn sie dann wieder vom Schaukelstuhl stieg, „an Land“ ging, lief sie mit dem von ihr geliebten leichten Schiffsschwindel in der Wohnung umher. So war es schon immer gewesen, die Bewegungen des Wassers gaben ihr den Takt für das Leben an, an Land schien ihr Rhythmus durcheinander zu kommen.
Wenn der Ehemann, Bauingenieur und Gleisbauer, das Gewürzregal betrachtete, erhob er seine Stimme, was diese fast bis zur Unkenntlichkeit veränderte. Er erkannte die Ordnung des Gewürzregals nicht, die sich durch die Herkunft der Gewürze aus ihren Heimatkontinenten ergab. Auch dass die Gewürze für die Unterbringung verschiedenartige Behältnisse bewohnten, war nach seiner Meinung ein systematischer Fehler. Ganz zu schweigen davon, dass nach seiner Meinung ein Globus im Gewürzregal nichts zu suchen hatte. Das bestehende Ordnungssystem der Frau, in Hinblick auf das Gewürzregal zumindest, nannte der Mann Gedankenentgleisung und es brachte ihn zum Verzweifeln. Obwohl er außer normalen Salz oder Paprika selten etwas aus dem Gewürzregal verwendete, blieb ihm dieses ewig ein Dorn im Bauingenieursauge.
Auch das Angebot seiner Frau, das Sortieren gemeinsam zu vollenden und für jeden Kontinent jeweils einheitliche Behältnisse zu benutzen, lehnte er strikt ab. So gewöhnte es sich die Frau an, die Wutausbrüche seitens des Mannes mit Musik zu übertönen, was zu einer befremdlichen Note ihrer Lieblingsmusik führte. Nur andere, wie die Nachbarn, empfanden das, was sie hörten, als interessanten, neuen Musikstill.
Der Erwartung des Mannes, eine alphabetische Ordnung im Gewürzregal einzuführen, war seine Frau nicht nachgekommen. Punkt? Nein! – Nie war es so weit gekommen, dass sie ihm hätte erklären können, dass alles schon mit den unterschiedlichen Namen anfing, mit denen sie die jeweiligen Gewürze bezeichnete. Gerne hätte sie ihren Mann auch in die Kunst des Gewürzduftens eingeführt und ihm die Kontinentaleinteilungen genauer erklärt, doch auch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch darauf, dass sich mit der Zeit bei dem Mann der so genannte Mondrian-Komplex einstellte. Wie einst der bekannte und namensgebende Künstler seine Bilder geometrisch ordnete und keine Linie von der Horizontalen oder Vertikalen abweichen durfte, so konnte der Bahn-Bauingenieur auf seinem Schreibtisch und Esstisch die Dinge nur ertragen, wenn sie sich in der gedachten Verlängerung einer vertikalen oder horizontalen – exakt geraden Linie – aufeinander bezogen. Besonders liebte er berufsbedingt die parallelen Linien. Es begann damit, dass er das eckige Salzgefäß parallel zur Tischkante platzierte, genauso wie die quadratischen Teller, welche zu dieser Zeit gekauft wurden. Die Gläser, welche durch ihre runde Form bereits abwichen, wurden mit der Zeit ebenfalls durch eckige ersetzt. Tagsüber geometrisierten sich seine Gedanken berufsbedingt und am Wochenende versuchte er mit dieser Art des Denkens auch in seiner Familie Einzug zu erhalten. Durch die Anwesenheit und das Wesen seiner Frau konnte sich diese Angewohnheit, sozusagen als eine Art Pendant zu ihrem Charakter, besonders gut ausbreiten. Doch als ihre Wege dann endgültig auseinander gingen, kam es noch zu einer Verstärkung des Mondrian-Komplexes bei dem einstigen Ehemann, nicht nur im privaten Bereich.
Dieser Text ist ein Auszug aus „Die 3. Hand“ (noch unveröffentlicht).