„Mein erstes Bier?“ Tobias Grebhan steht auf Zehenspitzen in einer Lagerhalle und linst in einen Tank aus Edelstahl, in dem eine trübe Flüssigkeit vor sich hin schäumt. Er überlegt einen Moment. „Mein erstes Bier war ein Pils“, sagt er schließlich und grinst verschmitzt. „Das hab‘ ich noch in der Küche gebraut und da ist Einiges schief gegangen. So ein Pils ist gar nicht einfach.“
Abgehalten hat ihn die bierkulinarische Katastrophe nicht. Im Gegenteil: Im Jahr 2014 gab der studierte Psychologe sein Angestelltendasein in einer forensischen Klinik auf, um sich ganz seiner Leidenschaft zu widmen: Bier brauen.
Erste Gehversuche mit seiner eigenen Brauerei machte Tobias Grebhan im Bremer Schnoor, in einem der kleinen Häuschen gegenüber dem Laden, in dem das ganze Jahr über Weihnachten ist. In seinem Geschäft verkaufte er Craft Bier, gab Tasting- und Brauseminare und stellte natürlich auch selbst Bier her. Doch irgendwann wurde ihm der Schnoor zu eng. Für eine richtige Anlage mit Sudhaus und Lagertanks war im mittelalterlichen Gebäude kein Platz. Also zog er ins Gewerbegebiet in Horn, an den Stadtrand der Hansestadt. Dort kreiert er nun Biersorten wie Ale, IPA und Lager. „Ich hab zwei dicke Ordner voller Rezepturen, die ich selbst entwickelt oder weiterentwickelt habe“, sagt er.
Bierbrauen ist für den Bremer noch ein „echtes Handwerk“ – nicht zuletzt nannte er deshalb auch seine erste Marke Grebhans Bierhandwerk. Die Auswahl und das Mahlen des Malzes, das Ansetzen der Würze, das Umfüllen in Tanks, das Kontrollieren des Biers, selbst das Abfüllen in Flaschen und Fässer und das Etikettieren meistert er zwar mit maschineller Unterstützung, aber nicht fremdgesteuert durch einen Computer.
An der Wand hängt ein handgeschriebener Arbeitsplan, der die Arbeitswoche bestimmt. „Ich bin in ständigem Kontakt zu meinem Produkt und entscheide, wann was ins Bier kommt und wann es fertig ist“, sagt Tobias Grebhan. „Selbst die Ventile drehe ich noch eigenhändig auf und zu.“
Mit Blick auf die Statistik mag es erstaunen, dass jemand auf einen Markt setzt, der eigentlich seit Jahren rückläufig ist. In Deutschland trinken die Menschen im internationalen Vergleich zwar noch immer viel, aber insgesamt weniger Bier im Vergleich zu den Jahren und Jahrzehnten davor. Und auch die Brauereien stellen immer weniger Bier her: Im Jahr 2006 produzierten sie nach Angaben des Statistischen Bundesamts und Berechnungen des Deutschen Brauer-Bundes zufolge noch 101.986.331 Hektoliter Bier. Im Jahr 2016 waren es gerade mal 87.722.831 Hektoliter.
Auch sein Vater sei anfangs nicht gerade begeistert gewesen, dass er in seine Fußstapfen treten wolle, erinnert sich Tobias Grebhan. Er hatte als Brauer bei einer Bremer Großbrauerei gearbeitet – und habe sich erst für den Entschluss seines Sohnes erwärmen können, als ihm Bekannte sagten: „Das wird schon. Bierbrauen liegt grad voll im Trend.“ Also half er seinem Sohn beim Quereinstieg in die Branche. Und findet die Entscheidung gut, sagt Tobias Grebhan. „Einmal in der Woche kommt er heute noch vorbei. Ohne Vattern geht nichts.“
Tatsächlich ist Tobias Grebhan kein Einzelfall: Die Zahl an Brauereien im Bundesgebiet ist in den vergangenen zehn Jahren von 1.289 auf 1.408 im Jahr 2016 gestiegen.
Und auch in Bremen und Niedersachsen gibt es heute mehr Brauereien als noch Ende des vergangenen Jahrhunderts: Die Zahl an Braustätten stieg von 38 im Jahr 1996 auf 72 im Jahr 2016.
Marc-Oliver Huhnholz hat für diese Entwicklung eine Erklärung: „Anhand der Braustättenstatistik lässt sich eine Zunahme der Betriebe bis 5.000 Hektoliter in den letzten Jahren feststellen. Dort ist unseres Erachtens auch die überwiegende Zahl der neuen Craftbier-Brauereien zu verorten“, sagt der Pressesprecher des Deutschen Brauer-Bundes.
Unter Craftbier oder Craft Beer versteht man Biere, die handwerklich von unabhängigen, inhabergeführten Brauereien hergestellt werden. Als Ursprung der Craft-Beer-Bewegung gelten die USA. Tatsächlich gab es hierzulande auch schon davor regionale Braustätten, Gasthaus- und Mikro-Brauereien. „Craftbiere wurden in Deutschland schon gebraut, als dieser Begriff in den USA noch ein Fremdwort war“, so Marc-Oliver Huhnholz vom Deutschen Brauer-Bund.
Auch dem Standort Bremen gab der Trend einen neuen Schub – nicht nur für neue Brauer wie Tobias Grebhan, sondern auch für fast schon vergessene Braustätten:
Die Union Brauerei im Bremer Stadtteil Walle beispielsweise existierte mehr als sechs Jahrzehnte, bevor sie Ende der 1960er-Jahre geschlossen wurde. Im Jahr 2015 wurde die Marke und auch das Gelände wiederbelebt oder „re-established“, wie es im Logo heißt.
„In Bremen hat sich durch die Craft-Beer-Szene einiges getan. Mit Grebhans und der Union Brauerei hat sich die Anzahl an Brauereien verdoppelt, es gibt Spezialgeschäfte wie Brolters oder die Craft Bier Bar und auch in einigen Kneipen und Supermärkten kann man jetzt Craft Beer kaufen“, sagt Boris von Schaewen, der am Schulzentrum Rübekamp angehende Brauer und Mälzer unterrichtet. Die Schule ist eine von gerade mal acht Berufsschulen für diese Handwerksberufe in Deutschland. Im imposanten Backsteingebäude im Bremer Westen erfahren die Schülerinnen und Schüler alles rund um die Bierproduktion: Malz herstellen, Würze kochen, Bier filtrieren und abfüllen.
Auch die Rezepturen aller gängigen Biersorten stehen auf dem Stundenplan. Denn Bier ist viele mehr als nur Pils, Weißbier und Lager:
Bierkenner unterscheiden zwischen 150 Bierstilen. Im Schulzentrum Rübekamp wird zu Schulungszwecken auch gern mal experimentiert – mit besonderen Hopfensorten, Salmiak oder Buchweizen.
Auch Tobias Grebhan stellt gern solche „besonderen Biere“ her, die er mit Ingwer, Kaffee oder Gagel aus der Region versetzt. „Experimentieren macht schon viel Spaß“, sagt er. „Aber eigentlich kann man mit den vier Zutaten, die das Reinheitsgebot vorschreibt, schon sehr viel machen.“
Denn Hopfen ist nicht gleich Hopfen und auch Malz gibt es in verschiedenen Sorten, die dem Bier jeweils einen bestimmten Charakter verleihen. In Tobias Grebhans Braustätte stapeln sich säckeweise gekeimter und getrockneter Roggen, Gerste und Weizen aus Deutschland, Österreich und Großbritannien.
Bis zu 700 Hektoliter Bier produziert seine Mikro-Brauerei derzeit pro Jahr. Das Bier verkauft Tobias Grebhan über Gaststätten, Kneipen, Cafés, Craft-Beer-Läden und -Bars in der Hansestadt. Und im Werksverkauf vor Ort: Freitags ab 12 Uhr schleppen Kunden Kartonweise Rote Hexe, Hopfenwolf und Schlawiener Lager aus der Lagerhalle. Läuft, könnte man sagen
Dennoch sieht Marc-Oliver Huhnholz in Brauern wie Tobias Grebhan keine Konkurrenz für große Unternehmen. „Die reinen Craftbier-Brauereien machen unserer Einschätzung nach einen Anteil von 0,2 Prozent der Gesamtjahreserzeugung an Bier aus“, sagt der Pressesprecher vom Deutschen Brauer-Bund.
Als unwichtig für die Branche stuft er sie dennoch nicht ein: „Wenn neuerdings immer mehr hopfen- und malzbetonte, aromaintensive Biere als Craftbiere die deutsche Biervielfalt bereichern, wird damit der seit jeher vielfältige Biermarkt noch facettenreicher.“ Und: „Craftbiere werden auch in Deutschland auf lange Sicht ihre Nische finden. Wir stehen daher auch heute wohlmöglich noch erst am Beginn dieser neuen Entwicklung, von der letztlich alle Brauer profitieren können.“
Tobias Grebhan hat von dieser Entwicklung schon jetzt profitiert: Er hat sich einen Traum ermöglichen können. Und der ist noch lange nicht vorbei. Gerade hat er mit Mabuse Bräu eine weitere Marke auf den Markt gebracht. Was Anderes machen, das kann er sich gar nicht mehr vorstellen. Selbst wenn die Arbeitstage heute oft weitaus länger sind als in seinem alten Beruf. „Ich lebe von und mit meinem Bier“, sagt er. „Tagsüber braue ich, nachts träume ich davon.“