Wenn Menschen Luftwurzeln schlagen – KLUB DIALOG

Wenn Menschen Luftwurzeln schlagen

Sujet Verlag veröffentlicht grenzüberschreitende Literatur

Wenn Menschen von ihrer Heimat oder ihrem Zuhause sprechen, dann ist meist auch die Rede von Wurzeln. Denn da, wo man herkommt, sei man auch verwurzelt, heißt es oft. Was ist aber, wenn man gezwungen wurde, seine Heimat hinter sich zu lassen oder sich ganz einfach aus freien Stücken für eine neue Heimat entschieden hat? Ist man dann entwurzelt? Sich einen Baum ohne Wurzeln vorzustellen, ist nahezu unmöglich. Doch müssen Wurzeln tatsächlich immer im Boden wachsen? In der Biologie zumindest gibt es den Begriff der Luftwurzel. Gemeint sind hiermit jene Wurzeln, die nicht in der Erde wachsen, sondern über ihr – in der Luft eben. Aber sind auch Menschen in der Lage, Luftwurzeln zu schlagen?

Die Menschen fühlen sich mehreren Orten zugehörig.
Sie leben nicht zwischen den Kulturen, sondern in ihnen.

Madjid Mohit, Verleger des Sujet Verlags

Madjid Mohit, der Verleger des Sujet Verlags in Bremen, sagt ja. Sein Verlag beschäftigt sich nämlich genau mit diesen Themen. „Wir veröffentlichen sowohl Werke von Autorinnen und Autoren mit einer Migrationsbiografie als auch Werke, die sich inhaltlich mit dem Phänomen der Migration und des Lebens in einer zunächst unbekannten Umgebung beschäftigen“, erzählt der gebürtige Iraner. Die Luftwurzelliteratur sei demnach ein poetischer Ausdruck für eine grenzüberschreitende Literatur, die auch als Nachfolge der Exilliteratur bezeichnet werden könne. Im Gegensatz zum eher negativ konnotierten Begriff der Exilliteratur, welcher auch mit der Nachkriegsliteratur zu vergleich sei, greife die Luftwurzelliteratur vielmehr die positiven und bereichernden Aspekte des Exils oder der Migration auf. Durch Flucht, das Auswandern oder auch nur durch das einfache Reisen würden sich Menschen nämlich nicht mehr nur an einem Ort zugehörig fühlen, sondern an mehreren. Sie würden nicht zwischen den Kulturen leben, sondern vielmehr in ihnen und daher über eine komplexe kulturelle Identität verfügen. Menschen können laut Mohit also durchaus Luftwurzeln schlagen. 

Auch Mohit ist durch und durch ein „Luftwurzel-Mensch“. Er sei nämlich selbst Anfang der 90er Jahre aus dem Iran nach Deutschland ins Exil geflohen, wo er sich anschließend in Bremen niederließ und 1996 den Sujet Verlag gründete. Vorher habe er aber auch schon reichlich Erfahrungen mit Verlagen gehabt, immerhin stammt er aus einer Verlegerfamilie. Die Arbeit in seiner Heimat sei aber hiermit keineswegs zu vergleichen. Denn im Iran seien die Verlagsarbeit sowie die Literatur geprägt von Zensur gewesen. Viele Themen durften nicht angesprochen und damit auch nicht abgedruckt werden und erschwerten die Arbeit ungemein. Insbesondere betraf dies Bücher aus dem Ausland, sodass vor allem Übersetzungen mit vielen Problemen einhergingen. All diese Schwierigkeiten sowie auch die gesamte Situation in seiner Heimat entfachten seine Begeisterung für die Literatur aber nur weiter. „Wenn alles normal gelaufen wäre, hätte ich diesen Beruf vielleicht gar nicht mit so viel Leidenschaft gemacht“, erzählt Mohit nachdenklich. Auch heute arbeite er weiterhin „mit Herz und Seele“.

 

Der Sujet Verlag existierte aber nicht immer in seiner heutigen Form. Anfangs lag der Fokus nämlich vielmehr auf der Druckerei, die mit betrieben wurde. „Als das Konzept des Verlags noch nicht reif genug war, haben wir außerdem viele unterschiedliche Titel im Programm aufgenommen, die nicht unbedingt passten“, erklärt er weiter. Erst im Laufe der Zeit habe sich der Verlag schließlich auf die Veröffentlichung von Werken aus der sogenannten „Luftwurzelliteratur“ spezialisiert und die Druckerei aufgegeben. Die Idee für den Begriff „Luftwurzel“ stamme übrigens aus einem gleichnamigen Theaterstück, in dem er einst in Bremen mitgespielt habe.

 

An die unterschiedlichen Geschichten kommt der Verlag übrigens auf den verschiedensten Wegen. Anfangs gestaltete sich dieser Vorgang aber wohl schwieriger und man habe aktiver nach Autoren suchen müssen. Doch mit der Zeit habe sich das geändert. Inzwischen bekomme der Verlag auch regelmäßig Manuskripte zugeschickt. Projekte kämen aber vermehrt auch durch Messen oder Veranstaltungen zustande. Darüber hinaus würden Autoren, die beim Sujet Verlag ein Buch veröffentlichen, zumeist ohnehin weiterschreiben und daher auch weitere Bücher veröffentlichen. Bei Übersetzungen wiederum kämen die Projekte vielmehr über andere Institutionen, wie bspw. ausländische Verlage oder aber Vereine zustande, mit denen man im engen Kontakt stehe. Insgesamt fördere der Sujet Verlag damit den Literaturaustausch zwischen Deutschland und anderen Ländern, insbesondere aber Frankreich sowie verschiedenen Ländern des Maghreb und Nahen bis Mittleren Ostens.

So ähnlich sei es nämlich auch bei dem Titel „Tarlan“ von Fariba Vafi gewesen, in dem es um eine junge Frau geht, die nach dem Ende der Schah-Regierung im Iran ihren Weg sucht und für Ideale wie Gerechtigkeit kämpft. Dieser Roman gewann sogar den diesjährigen LiBeraturpreis, welcher ausschließlich an Autorinnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika vergeben wird, um unter anderem auf diese Weise die Literatur aus diesen Regionen zu fördern.

Während Tarlan demnach eine Übersetzung aus dem Iran darstellt, gäbe es im Verlag aber sehr viel mehr Autorinnen und Autoren, die außerhalb schreiben. Gemeint sind diejenigen, die zum Beispiel im Exil in Deutschland oder Frankreich leben, oder aber eine einfache Migrationsbiografie aufweisen und somit direkt in ihrer zweiten Sprache schreiben. Es gäbe aber auch eine Vielzahl an Werken von deutschen Autorinnen und Autoren, deren Werke sich mit diesen Themen beschäftigen würden. Veröffentlicht werden zudem nicht nur Romane, sondern auch die Bereiche Lyrik und Sachbuch sind im Sujet Verlag gut vertreten. Vor allem aber die Lyrik liege dem Verleger am Herzen.

© 2016 Sujet Verlag

In der Praxis leben wir Alle zusammen.

Madjid Mohit, Verleger des Sujet Verlags

Insgesamt würde die Luftwurzelliteratur demnach der kulturellen Verständigung dienen und dem Leser ermöglichen, eine grenzüberschreitende Perspektive einzunehmen. Erfreulicherweise sei derzeit zu beobachten, dass das Interesse an dieser Art von Literatur steige. Gerade in diesen Zeiten sei dies nämlich besonders wichtig, denn viele Probleme seien aus dem Grund vorhanden, dass keine Verständigung zwischen den Kulturen herrsche. Die Literatur könne dies aber ändern, da sie einen kreativen sowie einzigartigen Zugang zu anderen Kulturen biete. Andere Sichtweisen, Atmosphären oder Figuren würden die Literatur zudem bunter machen. Die Aufgabe der kulturellen Verständigung könne laut Mohit demnach nur von der Literatur bewältigt werden. Denn einzig sie könne eine wirklich gesunde Basis für den Dialog aufbauen. „In der Praxis leben wir alle zusammen. Und deshalb sind wir alle Luftwurzel-Menschen“, erklärt Mohit abschließend.

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